Solch ein Stück passt nicht in die Vorweihnachtszeit? Wir erleben den Monolog des berühmten, mit 41 Jahren viel zu früh verstorbenen französischen Autors Bernard-Marie Koltès, „Die Nacht kurz vor den Wäldern“. Das Stück spielt im engagierten Kammertheater Tiefrot, das 2002 von Schauspieler und Regisseur Volker Lippmann gegründet wurde. Wieder eine außergewöhnliche Inszenierung, diesmal vom theater24.
Er ist nicht normal, der obdachlose, verstörte Mann, der schreit, um sich schlägt, mit einem imaginären Kameraden spricht, sich erinnert, dass er eine Frau, mit der er eine Nacht auf einer Brücke verbrachte, schlagen wollte. Er führt Selbstgespräche. Sein atemloser Redezwang konfrontiert uns mit Momentaufnahmen seines Lebens, mit Erinnerungsfetzen, die sich wiederholen, fortgeführt werden, uns zurückführen in eine Vergangenheit, die vor dem Stück liegt. Er ist auf der Suche nach einem Zimmer, nach Nähe, nach Geborgenheit, Liebe. Aber er ist ein Fremder, ausgegrenzt, einsam. Er hat sich mit vielen politischen Konzepten auseinandergesetzt; sie alle haben ihn nicht überzeugen können. Der Mann ist verrückt. Oder etwa doch nicht?
Ein Täter ist er in jedem Fall. Gewalttätig. Aggressiv. Er will sich wehren. Wie konnte er zu dem werden, der er ist? Die Eltern spielen eine Rolle hierbei, eine Gesellschaft, in der ein Mensch verrohen kann. Er ist auch Opfer. Ein Mensch, der vereinsamt, der an der sozialen Kälte zugrunde geht. Er wurde zusammengeschlagen von Männern der neuen Rechten.
So erleben wir ihn zu Beginn. Am Ende des Stückes wird klar: Es gibt für ihn in dieser Welt keine Rettung. Oder ist er schon zu Beginn ein Toter? Vielleicht noch in einem Zwischenreich, bis er seine regennasse Kleidung nicht mehr wahrnimmt. Nein, alles fühlt sich trocken an. Er ist in der anderen Welt angekommen.
Das ganz auf das Wesentliche konzentrierte Bühnenbild des Regisseurs kommt mit Spiegeln aus, die eine hinter der Realität liegende Ebene andeuten. Später verwandeln sie sich in Schaukästen, in denen zwölf amorphe Puppen an ‚Das Abendmahl’ von Leonardo da Vinci erinnern. Die Musik holt die Zuschauer in die bedrückende Großstadt-Gegenwart. Der Komponist, Klaus der Geiger, ist auch im richtigen Leben ein engagierter Kämpfer gegen eine kalte Luxuswelt und für die Belange der Menschen, die aus dem sozialen Zusammenhang gefallen sind.
Die ungeheuer dichte Inszenierung von Karsten Schönwald überzeugt in jedem Moment, macht die verschiedenen Ebenen des Stückes deutlich. 1977 erlebte der Autor, der auch immer wieder auf deutschen Bühnen gespielt wurde und wird, mit diesem Monolog über einen Außenseiter der Gesellschaft seinen großen Durchbruch als Dramatiker. 30 Jahre später ist sein kritischer Monolog über Obdachlose, die außerhalb der Gesellschaft stehen, aktueller denn je. Der Regisseur hat seinem Schauspieler, Marcus M. Mies, viel Raum gelassen, seine großartige differenzierte Interpretation zu erarbeiten. Der begabte Schauspieler und Absolvent des Max-Reinhardt-Seminars, lässt bereits jetzt an die großen Monologe von Klaus Kinski denken. Mies zieht den Zuschauer so in seinen Bann, dass der keine Chance hat, das Bühnengeschehen auch nur einen Augenblick außer Acht zu lassen. Neben den ernsten, konzentrierten Teilen gibt es durchaus poetische und tragikomische Momente auf dem schmalen Grat zwischen Drama und Groteske. 75 intensive Minuten lang.
Mit mehreren Kooperationspartnern, die in der realen Welt mit den Problemen und der Situation Obdachloser zu tun haben, plant Karsten Schönwald weitergehende Projekte.
Wer im vorweihnachtlichen Trubel Stille sucht, wer das Nachdenken nicht scheut und einen Moment des Innehaltens ertragen kann, der sollte unbedingt diesen sozialkritischen Monolog von theater24 hören und sehen und die rundum gelungene Inszenierung als eine Anregung zur Diskussion in der Familie oder mit Freunden erleben. Als ein etwas anderes Weihnachtsstück.
Karten sind ab 11 Euro unter 0221/ 46 00 911 erhältlich. Das Stück ist noch bis zum 14. Dezember 2008 im Theater Tiefrot zu sehen.
Marion Schneider
Überzeugende Premiere im Kölner Theater Tiefrot

Das Kölner Theater Tiefrot zeigt die "Die Nacht kurz vor den Wäldern" <br>Foto: Koeln-Magazin.de
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